Die Liebe zur Malerei
Ich liebe Malerei. Nicht weiter verwunderlich für einen Künstler, der malt. Hier soll es aber nicht um meine Beziehung zur Malerei aus der Perspektive meiner künstlerischen Praxis gehen. Sondern vielmehr um mein Erleben in der Begegnung mit malerischen Werken anderer KünstlerInnen1.
Wenn ich Ausstellungen besuche, auf Biennalen oder Messen bin, fühle ich mich meist am stärksten zu gemalten Bildern hingezogen. Gleichzeitig sind es andere Praktiken und Formate, die mir für eine Auseinandersetzung mit der Komplexität der Gegenwart besser geeignet scheinen; die sich mit politischen, sozialen, wirtschaftlichen, technologischen Fragestellungen auf eine Weise beschäftigen, die diese Wirklichkeiten, ihre Abhängigkeiten und Wechselwirkungen besser erfassen; die medienunspezifisch, hybride, relational denken und handeln.
Dennoch ist es zumeist Malerei, die mich in ihren Bann zieht. Woher kommt diese Anziehungskraft? Und was meine ich eigentlich, wenn ich von Malerei spreche bzw. schreibe? Was macht sie so besonders, wenigstens für mich?
Die Malerei: Entgrenzung, Differenzierung, Spezifität
Unter “Die Malerei” (mit großem D) werden meist unterschiedlichste Praktiken subsumiert, die in irgendeiner Weise malerische Mittel zum Einsatz bringen. Mitunter sind sogar Arbeiten mitgemeint, die in ihrer Ästhetik lediglich “malerisch” wirken. Im Zuge der Entgrenzung der Malerei hat sich der Begriff derart gedehnt, dass er nicht mehr nur das “klassische” Tafelbild meint, sondern Medien wie Video, Skulptur, Fotografie sowie hybride Mischformen potentiell einschließt. Wenn also allgemein von “Malerei” gesprochen wird, könnte es sich dabei um alles Mögliche handeln. Die Frage nach einem Spezifischen der Malerei ergibt unter diesen Vorzeichen wenig Sinn – zumindest für mich. Ich muss zuerst klären, was ich mit Malerei meine, um genauer in den Blick zu bekommen, worum es mir geht. Zur besseren Differenzierung will ich dafür andere Begriffe ins Spiel bringen: Malen, Bemaltes, Gemaltes.
Malen oder das Malen bezeichnet den Vorgang des Malens: ganz elementar formuliert das Aufbringen von Malmitteln auf einen Malgrund.
Bemaltes oder das Bemalte bezeichnet etwas in der räumlichen Wirklichkeit, auf das Malmittel aufgetragen wurde; ein dreidimensionales Objekt, dessen physische Präsenz nicht beim Vorgang des Malens verschwindet, also nicht durch diesen konstituiert wird. Eine Skulptur als Körper im Raum kann be-malt sein, aber nicht ge-malt.
Gemaltes oder das Gemalte bezeichnet das gemalte Bild; wofür wir im Deutschen mit “Gemälde” ein eigenes Wort haben. Anders als beim be-malten Objekt verschwindet beim gemalten Bild der Malgrund, der Bildträger. Das Bild ist das Gemalte. Oder, noch einmal anders ausgedrückt: ein Bild hat keinen Körper.
Natürlich hat auch ein gemaltes Bild eine materielle, physische Grundlage: einen mit Leinwand bespannten Keilrahmen beispielsweise. Wenn wir ein gemaltes Bild betrachten, sehen wir aber das Bild, nicht ein Textilobjekt auf das Farbe aufgebracht wurde. Dieser Effekt ist kein absoluter, sondern hängt von individueller Wahrnehmung ebenso ab wie von der Beschaffenheit des Malgrunds.
Nehmen wir jenen als Körper wahr, als Objekt, das den Raum, in dem wir uns befinden, mit uns teilt, sehen wir folglich kein Bild. Das geschieht, sobald unsere Nah-Sinne2 angesprochen werden. Das “pure” Bild zu sehen ist dagegen als würde man in eine unbestimmte Tiefe blicken. Es schwebt einem sozusagen vor Augen – was man hingegen nicht wahrnimmt ist der Bildträger. Bei Gemälden könnte man auch sagen: er ist möglichst flach; mithin und nicht von ungefähr eine der Konventionen des Tafelbilds3. Die fehlende (räumliche) Tiefe des Bildträgers bedingt gewissermaßen die (immanente) Tiefe des Bildes, seine Existenz. Oder, allgemeiner: das Bild hat eine eigene Wirklichkeit dadurch, dass es nicht Teil unserer (physischen) Wirklichkeit ist. Es ist eine eigene Welt, weil es nicht von dieser Welt ist4.
Bild oder Ab-Bild: was oder wen befragt die Betrachterin?
Die Differenzierung zwischen bemaltem Objekt und gemaltem Bild ist ein erster Schritt der Klärung: wenn Malerei ein Spezifikum hat, ist es – für mich – beim gemalten Bild zu finden. Das bisher zum Bild (im allgemeinen) geschriebene trifft allerdings nicht allein auf gemalte Bilder zu. Unterscheiden sich diese von anderen Bildern und wenn ja, worin?
Auch hier hilft es zu differenzieren – und zwar zwischen Bild und Ab-Bild. Was ich damit meine, erklärt sich aus einer Gegenüberstellung des gemalten und des fotografischen Bildes als paradigmatischen Beispielen.
Beim fotografischen Bild wird das, was sich vor der Linse befindet, von einem lichtempfindlichen Film oder Sensor registriert und festgehalten. Ein Stück Wirklichkeit wird durch einen objektiven technischen Prozess abgebildet; dieses Ab-Bild ist ein Spiegel, eine Re-Präsentation dieser Wirklichkeit. Wer eine Fotografie betrachtet, wird zu dessen Deutung die Wirklichkeit vor der Linse befragen. Man befragt nicht das Abbild selbst und ebensowenig die Kamera, was sie sich wohl bei diesem Bild gedacht hat. Die Kamera ist kein Subjekt das Bilder macht. Natürlich ist ein Subjekt beteiligt – die Fotografin. Sie wählt den Bildausschnitt, bestimmt die Komposition, setzt das Licht, etc. – sie arrangiert die Wirklichkeit, von der sie mit Hilfe der Kamera ein objektives Abbild erzeugt. Mit anderen Worten: was sich vor der Linse befindet, muss durch die Kamera hindurch um Abbild zu werden, nicht durch die Fotografin5.
Das gemalte Bild hingegen muss durch ein malendes Subjekt hindurch. Es ist nicht objektives Ab-Bild der uns umgebenden Realität, sondern hat – ist – eine eigene Wirklichkeit. Es ist diese bildimmanente Wirklichkeit, die wir befragen, um das gemalte Bild zu verstehen. Während beim Ab-Bild Prozesse des Wieder-Erkennens ablaufen, an deren Ende mehrere BetrachterInnen sich über das Erkannte einig sind (Objektivität wird eben nicht von jedem Subjekt selbst und unabhängig hergestellt), ist das sehende Verstehen eines gemalten Bildes allein der individuellen Betrachterin überantwortet67.
Dem Machen des Bildes durch ein Subjekt (die Malerin) folgt das Machen des Bildes durch ein anderes Subjekt, die Betrachterin – im Vorgang der Imagination. Das Bild wird dabei immer wieder neu gemacht: die Betrachterin macht sich “ihr eigenes Bild”. Ihre Imagination reproduziert nicht jenes Bild, das die Malerin gemacht hat. Selbst wenn ich mich beim Betrachten des gemalten Bildes frage, was die Malerin damit ausdrücken wollte, ist es eben so, dass ich mich frage und nicht die (abwesende) Malerin selbst. Könnte ich sie tatsächlich selbst fragen, würde sie nur sagen können, welches Bild sie gemacht hat – wir werden uns nicht auf ein und das selbe Bild einigen. Isabelle Graw vermutet die Wirkung der Malerei in den Spuren, die das Künstlersubjekt hinterlassen hat. Die Malerei entzünde Graw zufolge bei der Betrachterin “vitalistische Phantasien”, weil sie der Präsenz des malenden Subjekts ansichtig würde, ein Subjekt, auf welches das Bild “indexikalisch” verweisen würde8.
In diesem der Malerei attestierten “Index-Effekt” stimme ich mit Graw voll und ganz überein; allerdings sehe ich die Wirkung der Malerei nicht darin, dass wir dort ein anderes Subjekt am Werk sehen, nicht darin, dass wir das Bild als lebendig wahrnehmen, weil das Leben der Malerin sich darin zeigt. Es ist meine eigene Subjektivität, die ich beim Betrachten eines gemalten Bildes als tätig erfahre. Ich bin es, niemand sonst, auf den das gemalte Bild zeigt – und umgekehrt. Ich mache das Bild und das Bild macht mich. Das Bild ist lebendig, weil ich lebendig bin9. Diese Erfahrung ist allerdings keine unbedingte, man macht sie nicht zwangsläufig. Ihr Zustandekommen, ihre Intensität und ihr Charakter hängen sowohl vom jeweiligen Bild wie von der jeweiligen Betrachterin ab – ein gewissermaßen geteiltes, wechselseitiges Potential. Ein Potential, auf das es zudem nicht jedes gemalte Bild, nicht jede Malerin überhaupt abgesehen hat; gemalte Bilder können auch anderen Ideen folgen.
Malerei und Gegenwart
Immer wieder hieß und heißt es, die Malerei10 sei tot, erledigt, irrelevant. Als Statement macht eine solche Behauptung durchaus Sinn, je nachdem in welchen Kontexten und Diskursen damit Stellung bezogen wird. Als faktische Feststellung zu Existenz und Verbreitung entsprechender Praktiken, Kunstwerke, medialer Aufmerksamkeit wäre sie sicherlich falsch. Es wird gemalt wie verrückt, Malerei wird in immer neuen Ausstellungen gezeigt und hat am Handel mit Kunst gewichtigen Anteil11.
Jenseits theoretischer, finanzieller, medialer Aspekte ist es meiner Meinung nach zuallererst die beschriebene Erfahrung der Betrachterin bzw. des Betrachters mit einem gemalten Bild, die dessen ungebrochene Relevanz begründet. Ungeachtet der veränderten und sich rasant weiter verändernden Realitäten außerhalb des Bildes scheint mir gerade in dieser Exklusion der Außenwelt und der Intensität der individuellen Subjekterfahrung im und durch das Bild ein Hauptgrund für dessen nicht nachlassende Lebendigkeit zu liegen.
Über dieses “Eigentliche” am gemalten Bild hinaus sind es mediale Gegebenheiten gerade der Gegenwart, die am Status des gemalten Bildes positiv mitwirken. In unserem sogenannten Informationszeitalter hat sich unser Zugang zur Welt stark verändert: was wir wahrnehmen und konsumieren ist zunehmend digitalisiert und damit de-materialisiert; die Prominenz der visuellen Wahrnehmung wird durch sich stetig ausweitende und verbesserte Bildschirmtechnologien noch verstärkt und enger fokussiert; mediale Inhalte werden in höherem Maße individuell konsumiert (über Smartphones beispielsweise). Diese Charakteristika sind der Kraft und Wirkung des gemalten Bildes, im Gegensatz zu räumlichen Werken, deutlich weniger abträglich. Der Betrachterin (und potentiellen Kundin) wird eine ganz passable Vorschau auf eine Erfahrung ermöglicht, die sie schließlich am gemalten Bild selbst zu ihrer ureigenen machen kann.
Das Spezifische der Malerei
Auf der Suche nach dem, was mich an der Malerei anzieht und fesselt, worin ihre Kraft und Wirkung für mich besteht, was also das Spezifische, das Wesentliche an ihr sein könnte, habe ich zunächst versucht herauszufinden, welche “Malerei” ich meine. In Opposition zu einem entgrenzten Verständnis von Malerei, das potentiell alles Visuelle einschließt, bin ich über den Ausschluss als räumlich wahrgenommener Arbeiten (als “Be-Maltes”) und im Vergleich von Bild und Ab-Bild dahin gelangt, das Spezifische der Malerei dort zu sehen: bei gemalten Bildern.
Damit will ich aber nicht auf ein essentialistisches Verständnis von Malerei, das nach Strenge und Reinheit des Mediums verlangt, hinaus. Meine Argumente sind eher wahrnehmungs-psychologischer Natur und versuchen zu beantworten, was mit mir geschieht, wenn ich Malerei betrachte. Aus dieser Perspektive ergeben sich mehrere Dinge: zum einen geht es um meine subjektive Wahrnehmung, womit gleichzeitig anderen BetrachterInnen ihre jeweiligen subjektiven Wahrnehmungen zugestanden werden – mir ist nicht an der Definition absoluter Wahrheiten oder kategorialer Unterschiede gelegen. Womit zum anderen gesagt ist, dass mein Befund, das Spezifische der Malerei sei bei gemalten Bildern zu finden, zwar eine Eingrenzung vornimmt, dieser sich aber seiner Relativität bewußt ist.
Was nicht zuletzt auf das zutrifft, was ich als das Spezifische der Malerei ansehe: die Erfahrung der eigenen, tätigen Subjektivität durch die Betrachterin oder den Betrachter. Relativ ist diese Erfahrung, weil sie sich nicht zwangsläufig und gleichförmig einstellt, sondern ihr potentieller Gehalt vom gemalten Bild wie von der betrachtenden Person abhängt. Diese Erfahrung ist fragwürdig und unzuverlässig, schön und schaurig, immer wieder neu und immer wieder anders: eine Erfahrung die man machen, aber nicht fassen kann.
Darin liegt – für mich – die Kraft der Malerei.
- Wobei die Malerin eines Werks natürlich gleichzeitig dessen erste Betrachterin ist. Die im Machen entstandene Beziehung ist aber doch etwas anders gelagert, auch wenn vermutlich viele MalerInnen den merkwürdigen Moment kennen, in dem einem das eigene Werk plötzlich als fremd und unbekannt gegenübersteht. ↩︎
- Tasten, Riechen, Schmecken, räumliches Sehen, Körpersinn ↩︎
- Gegen diese Konvention zu verstoßen, die Materialität des Bildträgers offenzulegen, das Bild in einen Körper zu verwandeln, ist Inhalt von Arbeiten wie den geschlitzten Leinwänden von Lucio Fontana oder den Merzbildern von Kurt Schwitters. Worauf der jeweilige Künstler auch genau hinauswollte, er oder sie hat nebenbei oder gezielt auch immer das Bild zerstört. ↩︎
- Des öfteren ist auch die Rede davon, das Bild fungiere als “Fenster” in eine andere Welt. Während dies noch eine gewisse Distanzierung impliziert, kann das Betrachten sehr großer Bilder, die das Sichtfeld vollständig ausfüllen, eine geradezu immersive Erfahrung sein. ↩︎
- Wie aber steht es um den Grund, also der Frage warum die Fotografin dieses oder jenes abgelichtet hat – ist das nicht eine Frage an dieses Subjekt? Ich meine nein; diese Frage richtet sich ebenso an die abgebildete Wirklichkeit und lautet eigentlich: was an dieser Wirklichkeit ist es, das wert ist im Abbild festgehalten zu werden? ↩︎
- Der von mir gemachte Unterschied zwischen (gemaltem) Bild und (fotografiertem) Abbild soll nicht als kategorisch verstanden werden. Die Grenzen sind durchaus fließend, man denke an die fotochemischen Experimente eines Sigmar Polke, an sogenannte fotorealistische Malerei eines z.B. Franz Gertsch oder an die Collagen von Hannah Höch. Zudem gewinnen viele Arbeiten ihre Spannung gerade aus solchen (und anderen) “Grenzkonflikten”.
Eine Unterscheidung zwischen Bild und Abbild findet sich in anderer Weise innerhalb des Mediums der Malerei wieder, als Kategorisierung von Werken als “abstrakt” oder “gegenständlich”. Ist es bei einem gemalten Gegenstand nicht ebenfalls der Abgleich mit der Realität, der uns den Gegenstand überhaupt als solchen erkennen läßt? Unser Wissen über die Welt läßt uns eine gemalte Form z.B. als Stuhl interpretieren; der gemalte Stuhl aber ist Ergebnis eines schöpferischen Akts der Künstlerin, nicht reproduziertes Faktum der Wirklichkeit. Dass, warum und wie er ist, läßt sich nur in der Betrachtung des Bildes beantworten. ↩︎ - Der Frage nach der etwaigen Abbildfunktion der Malerei vor der Erfindung der Fotografie werde ich an dieser Stelle nicht nachgehen, da sie den Rahmen dieses Essays sprengen würde. Ich nehme sie dennoch zum Anlass, auf die historische Situiertheit jeglicher Fragestellung hinzuweisen, also darauf, dass meine Betrachtungen aus der Gegenwart der frühen 2020er Jahre erfolgen. ↩︎
- “Was mich interessiert, ist das Vermögen der Malerei, derartige vitalistische Projektionen zu veranlassen. Ich führe dieses Vermögen der Malerei auf die spezifische Indexikalität ihrer Zeichen zurück […] Das Leinwandbild verfügt z.B. über die Kapazität, den Eindruck einer geisterhaften Präsenz ihres abwesenden Autors zu erzeugen […] Es handelt sich bei der Malerei um eine spezifische Sprache, die über vielfältige Tricks, Methoden, Techniken und Listen verfügt, um diesen Eindruck einer Anwesenheit des abwesenden Autors als Index-Effekt zu erzeugen.”
Isabelle Graw, “Die Liebe zur Malerei”, Diaphanes Zürich 2017, S. 125-126 ↩︎ - Die Erfahrung des Selbst als tätiges Subjekt, welches das Bild nicht nur ansieht, sondern tatsächlich macht, liegt in der immateriellen Natur des Bildes: das gesehene Bild wird zum mentalen Bild; es ist beinahe so, als hätte man magische Kräfte, als könne man allein mit Gedanken ein Bild machen. (Visuelle) Wahrnehmung und Denken kommen in der Imagination quasi zur Deckung, wogegen sich die Erfahrung von Objekten als Körpern im Raum sperrt. ↩︎
- Was meist (wenn nicht immer) auf das Tafelbild und seine Konventionen abzielt und nicht “Die Malerei” als Sammelbegriff für Praktiken im Sinne einer “entgrenzten” Malerei meint. ↩︎
- Und zwar durchaus und vor allem die des öfteren totgesagte Malerei in Form gemalter Bilder. ↩︎
"Die Liebe zur Malerei" von Henrik Reimes ist lizensiert unter CC BY-SA 4.0